Ich paraphrasiere: Menschen haben das Recht und die Freiheit, was sie sind/sein wollen (nicht einmal durch, sondern) als bloßen Willensakt zu definieren. Jede Wahrnehmung, die im Verdacht steht, diesen Akt zu missachten, indem sie entweder die Selbstsetzung bestreitet oder – was damit gleichgesetzt wird – sie als im sozialen Umgang für minder wichtig erachtet, wird als Versuch der Beschädigung der eigenen Identität angesehen. Man sieht, wie diese Vorstellung des Zusammenhangs von Identität und Freiheit in eine paradoxe Situation führt. Wenn die selbstgesetzte Identität als permanent bedrohte (angefeindete, missachtete) angesehen wird, muss die ganze Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung durch die anderen gerichtet sein. Auf diese Weise wird die Vorstellung von selbstgesetzter Identität zum Gegenteil ihrer selbst: Ich bin nur noch das, was die anderen nicht aus mir machen sollen. Das ist die Lebensform der Substanzlosigkeit. Ihre Rollenform findet sie im Habitus des Opfers.
Jan Philipp Reemtsma, Angst als Gefühl, up to date zu sein. PSYCHE 07/2022