Ich persönlich interessiere mich für Forschung überhaupt nicht. Ich halte es für willfährig und servil zu glauben, dass man den gängigen Kriterien Genüge tun müsse. Meiner Meinung nach sollten Psychoanalytiker dem wissenschaftlichen Modell nicht dermaßen gläubig anhängen. Ich denke nicht, dass die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist oder dass sie es für erstrebenswert erachten sollte, eine zu sein.
Adam Phillips, zitiert in: Peter Fonagy & Chloe Campbell, Böses Blut – ein Rückblick: Bindung und Psychoanalyse, 2015. PSYCHE 4/2017

Sigmund Freud hat eine Umwälzung in der Kultur des Nachdenkens über uns selbst angestoßen, deren radikale Konsequenzen freilich auch heute noch selten mehr als in schattenhaften Umrissen begriffen werden. Es liegt schon an der inneren Logik dieser Denkanstöße, dass wir sie nur mit großer Mühe aufnehmen können und dabei von häufigen Missverständnissen behindert werden, die aus unseren inneren Widerständen herrühren; schließlich bildet ja gerade das Thema dieser Widerstände das Herzstück dieser Denkanstöße selbst.
Josef Berghold, Suchbewegungen zu den unbewussten Wurzeln der Schwäche unserer politischen Vorstellungskraft. WERKBLATT Nr. 73

Wer immer es mit kleinen Kindern zu tun hat, wird sich an Freuds Bemerkung erinnern, man möge doch die strahlende Intelligenz eines Vierjährigen mit der Stupidität der meisten Erwachsenen vergleichen. Seine Intention dabei war die Denunziation religiöser Erziehung - kein Einwand -, aber dass es nur darum gehe, ist - war - eine Illusion. Die Gesichter einigermaßen gewaltfrei aufwachsender Kinder heißen einfach die Welt in einer einen Erwachsenen verblüffenden Weise willkommen, obwohl die Kinder ja schon wissen, dass man sich in dieser Welt zum Beispiel ziemlich wehtun kann. Aber der Erwachsene, der sich an einem solchen Gesicht zu freuen versteht, weiß doch auch, dass wir alle - Eltern, Großeltern, Freunde, Verwandte, Unbekannte - gemeinsam daran arbeiten werden, das Strahlen in so einem Gesicht zum Erlöschen zu bringen, es auszuwischen und das Kind auf den Weg zu einem Erwachsenen zu bringen, der nicht unbedingt stupide sein muss, aber der es gründlich verlernt hat, die Welt als solche willkommen zu heißen. Aber so ist das eben mit dem Erwachsenwerden, und ein Erwachsener, der wie ein Kind in die Welt blickte, wäre kein reizender Anblick, sondern ein pathologischer Fall. Kurz, dieses Strahlen muss verschwinden, weil wir nicht anders können, als es zum Verschwinden zu bringen, weil es so ist, war und sein wird. Und auch, weil es so sein muss. Aber es ist ziemlich traurig - und schmerzlich, darüber nachzudenken.
Es ist, bei aller Einsicht in den Gang der Dinge, richtig, glaube ich, sich die Empfindung des Schmerzes auch über den notwendigen Gang der Dinge nicht abzugewöhnen. Dazu aber braucht es Kontakt zu jenen individuellen Bereichen, zur jenen eigenen biographischen Episoden, in denen man dann die Momente erkennt, in denen einem selbst dieses Strahlen aus dem Gesicht gewischt worden ist. Der Kontakt zur eigenen Biographie ist die Voraussetzung für Empathie und zum Sichselbst-Verstehen als Gattungswesen.
Jan Phillip Reemtsma, Wie weiter mit Sigmund Freud? Hamburger Edition 2008

Neurotische Unlust entsteht, Freud zufolge, als Produkt einer durch Verdrängung verursachten Verwandlung von Lust in Unlust. ... Affekte wie Ekel, Angst, Schuld, Übelkeit, Unmut, Aggression, Neid, Eifersucht etc. können folglich als die ins Negativ verkehrten Formen einer Lust begriffen werden. Gilles Deleuze hat in seinem Kommentar zu Spinoza solche Affekte als »trübsinnige Leidenschaften« bezeichnet. ...
Eine Lust, die nicht sein darf, verschafft sich Durchbruch, indem sie als Unlust ausgelebt und erfahren wird. Weil die Leute solche Affekte als Unlust erfahren, leiden sie; weil dieser Unlust aber Lust zugrunde liegt, können sie dennoch nicht von ihr lassen. ... Dementsprechend lassen sich die Unglücklichen auch kaum aus ihrem Unglück befreien. ... Diese leidenschaftliche Dimension des Verzichts auf Lust verdient deshalb besondere Beachtung, weil sie nicht allein im individuellen Leben auftritt. Sie ist vielmehr auch eine Konstante in der Politik: Es ist ein auffälliges Merkmal gerade der rechten Politik, daß sie es immer wieder fertigbringt, ihre Nachteile in Vorteile zu verwandeln und gerade diejenigen, die von ihr geschädigt werden, zu ihren fanatischen Anhängern zu machen. ...
Wie funktionieren die trübsinnigen Leidenschaften? Warum wird die Lust manifest als Unlust erfahren? Und warum wird die Unlust aufgesucht, als wäre sie ein Glück?
1914, in seinem Aufsatz über den Narzißmus, führt Freud eine Unterscheidung ein, die es ermöglicht, das zu erklären: die Unterscheidung zwischen Ich- und Objektlibido. Entscheidend ist dabei die von Freud postulierte Durchlässigkeit von der einen zur anderen, bei gleichbleibender Gesamtmenge. Wenn also eine Menge sexueller Energie vom Objekt abgezogen wird - z. B. weil das Objekt verlorengegangen ist so kann diese selbe Libidomenge in einem anders gearteten Objekt, nämlich dem Ich, untergebracht werden. ... Bei der Verwandlung von Objektlibido in Ichlibido verändert sich jedoch die Art der Lusterfahrung. Um es in alltäglicheren Begriffen zu formulieren, könnten wir sagen:
Aus Glück wird Selbstachtung. ...
Die Selbstachtung ist stolz, sich selbst für etwas anderes, Kostbareres zu halten als das Glück (zum Beispiel für »interesseloses Wohlgefallen« oder auch für »Pflicht« anstelle von »Neigung«). Die Erkenntnis der Psychoanalyse, daß zwischen Glück und Selbstachtung ein und dieselbe libidinöse Substanz zirkuliert, daß beide also aus demselben Stoff gemacht sind, muß die Selbstachtung prinzipiell vor sich selbst wie vor anderen verheimlichen. Aus dieser Verheimlichung ergibt sich dann gleichermaßen die Stärke wie die Glücksunfähigkeit der Selbstachtung.
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur

Die beiden Grundregeln der psychoanalytischen Kur, das Prinzip der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, bauen auf der Unverfügbarkeit der Sprache und des Sprechens auf. Gerade weil in der Kur das psychoanalytische Hören und Sprechen nicht die vorgebahnten Wege gehen muss, die die Erkenntnis immer neu dorthin zurückführt, von wo sie ausgegangen ist, sind neue Wege der Selbsterkenntnis und des Verständnisses für den Anderen möglich. Der offene Erwartungshorizont des Analytikers oder der Analytikerin und die Leere seiner oder ihrer eigenen Vorstellungswelt sind die Voraussetzungen dafür, dass die im Unbewussten fixierten, an die vergangenen Erfahrungen gebundenen Erwartungen überhaupt sichtbar oder spürbar werden. ... Die fixierten Erwartungen sind an vergangene Erfahrungen gebunden, mit der Folge, dass die Zukunft implizit als die Wiederholung des Vergangenen erlebt wird, so dass sie schon immer als vorbestimmt oder geschlossen erscheint. Mit der Unverfügbarkeit des psychoanalytischen Erkenntniswegs sind Zukunftsorientierung und Hoffnung auf Veränderung verknüpft. Psychoanalyse ersetzt die gebundenen durch offene Erwartungen. Das Paradox der psychoanalytischen Therapie, das oft genug in außerpsychoanalytischen Diskursen unverstanden bleibt, besteht gerade darin, dass einerseits die Unverfügbarkeit anerkannt wird, dass aber die Therapie diese Anerkennung zum Ausgangspunkt nimmt, um ... aus ihrer Erfahrung Möglichkeiten und Möglichkeitsräume im Sinne von D. W. Winnicott herauszuarbeiten. So bleibt die psychoanalytische Erfahrung nicht bei der Erkenntnis des Mangels stehen, ebenso wenig wie sie darauf ausgerichtet ist, ihn vollends zu beheben und Unbewusstheit endgültig aufzuheben. Aber sie arbeitet an und mit der Unverfügbarkeit. Sie löst Fixierungen auf, nicht um den autonomen, den von den – früher so genannten – »Restneurosen« befreiten Menschen zu schaffen, der sich selbst durchsichtig ist, sondern um die Spielräume des Erlebens und des Lebens zu vergrößern und damit Zukunft zu öffnen. Joachim Küchenhoff, Für Unverfügbares offen bleiben. PSYCHE 3/2021

Ich ... meine, daß alle Symptome auch diesen kommunikativen Aspekt haben. Sie »wollen« etwas mitteilen, etwas »erzählen«, was für den Patienten sonst unsagbar bleiben müßte. Nicht nur die hysterischen Inszenierungen, sondern z.B. auch Zwänge, Phobien, selbstzerstörerisches Verhalten, sich ständig wiederholendes Agieren sind solche Berichte über einen Leidensweg, ein erlittenes Unrecht, eine Demütigung, einen schmerzlichen Verlust, eine nicht erfüllte Sehnsucht, eine nicht bezwingbare Angst. Diese »Symptomsprache« dient nicht etwa nur dem sekundären Krankheitsgewinn (vermehrte Zuwendung durch die Umgebung). Ihre Hauptfunktion besteht in der Befriedigung des vielleicht intensivsten menschlichen Bedürfnisses, nämlich sich mitzuteilen. Ein solches Symptomverständnis ist eminent wichtig, weil die Übersetzung des Symptoms und die adäquate Beantwortung der in ihm enthaltenen Mitteilung eine der wichtigsten Bestandteile jeder psychoanalytischen Behandlung sein muß.
Stavros Mentzos, Neurotische Konfliktverarbeitung

Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach, den Einwand hören müssen: »Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen?« Darauf habe ich antworten können: »Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können.«
Sigmund Freud, Studien über Hysterie (1895)

Ohne hier auf die Diskussion um den »common ground« der Psychoanalyse einzugehen, möchte ich, gleichsam unterhalb dieser offiziellen Diskursebene, einige sozialisationstheoretische Annahmen formulieren, die meines Erachtens die analytische Tätigkeit allgemein begründen:
1. Der gattungsgeschichtliche Übergang von Natur zu Kultur konstituiert sich im Aufbau einer sinnstrukturierten sozialen Welt, einer symbolischen Ordnung und der damit verbundenen Sprachentwicklung. Diese sinnstrukturierte soziale Welt ist der historischen Veränderung – entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem kulturellen Entwicklungsstand – unterworfen.
2. Sozialisation bedeutet, daß jedes Kind – vorwiegend in der Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen – in diese sinnstrukturierte Welt eingeführt wird und eine Kompetenz erwirbt, sich in ihr zu orientieren und zu verhalten.
3. Hinsichtlich der frühesten und prägendsten Erfahrungen dieser Sozialisation besteht ab einem bestimmten Lebensalter eine Amnesie. Ohne besondere Verfahren bleiben diese Erfahrungen für die Erinnerung unzugänglich, sie hinterlassen aber gleichwohl in der psychischen Struktur des Individuums ihren Niederschlag und bestimmen in hohem Maße sein Erleben und Verhalten.
4. Psychische Störungen sind, soweit sie Gegenstand des psychoanalytischen Verfahrens werden können, in der Regel auf Störungen dieses Sozialisationsprozesses zurückzuführen. Sie sind insoweit sein Ergebnis. Im Falle schwerwiegender Traumatisierung im späteren Lebensalter bei zuvor intakter psychischer Struktur resultiert psychische Störung aus der bleibenden Läsion des primären Sozialisationsergebnisses.
5. Im psychoanalytischen Verfahren wird die Aufhebung oder Milderung psychischer Störung soweit erreicht, wie die unbewußten Spuren bewußt gemacht werden können, welche die Kindheitsgeschichte oder eine spätere Traumatisierung in der psychischen Struktur des Individuums hinterlassen haben. Die sprachliche Aneignung und Sinn-Rekonstruktion gestörter Sozialisation wird ermöglicht auf der Basis eines Erfahrungs- und Einsichtsprozesses, der in Inhalt, Intensität und Reichweite dem ursprünglichen Sozialisationsprozeß ähnelt. Dies ist die Bedingung der Möglichkeit, auf psychische Struktur verändernd einzuwirken.
Thomas Pollak, Über die berufliche Identität des Psychoanalytikers. Versuch einer professionstheoretischen Perspektive. PSYCHE 12/1999

Vor etwa zweihundert Jahren faßte in der Vorstellungswelt Europas der Gedanke Fuß, daß die Wahrheit gemacht, nicht gefunden wird. Die Französische Revolution hatte gezeigt, daß sich das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht auswechseln ließ. Dieser Präzedenzfall bewirkte, daß utopische politische Vorstellungen bei den Intellektuellen von der Ausnahme zur Regel wurden. Diese Ausprägung politischen Denkens schiebt die Fragen nach dem göttlichen Willen und dem menschlichen Wesen beiseite und träumt von der Erschaffung einer neuen Spielart des Menschseins.
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität